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REDE ZUR AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG

Über Kunst zu sprechen, versetzt einen Künstler immer wieder in einen alten, unauflösbaren Konflikt.

Macht man – um das geschaffene Bild zu schützen – bloß Andeutungen, heißt es vorwurfsvoll, das sei zu nebulös. Versucht man Form und Inhalt analytisch zu reduzieren, wird der Beschreibung meist entgegnet: Das kann ja jeder. Differenziert man und beginnt Details auszulegen, Kontexte zu beleuchten und Feinarbeit zu erklären, lautet die Kritik: viel zu kompliziert.

Die Triangulation von Undeutlichkeit, Banalität und Komplexion vermisst also recht genau den Ort der erklärenden oder erklärten Kunst. Das ist so und ich werde es Ihnen beweisen.

Meine Arbeit „Nordwestpassage“ beruht auf einem durchgehenden, quadratischen Raster mit einem Achsmass von 1 x 1 m. Es vermisst die Wand im Treppenhaus und deckt bauliche Unterschiedlichkeiten der Stockwerke auf. Das ist die Banalität, das kann tatsächlich jeder.

Um jedoch nur schon die Konstruktion zu meistern, die Treppenläufe und unterschiedlichen Deckenhöhen zu integrieren, die verschiedenen Wandbreiten, Untergründe und Materialien fassbar und bespielbar zu machen, waren unzählige Berechnungen nötig, die alle auf einem verblüffend einfachen, aber philosophisch aufreibendem Prinzipienstreit bestehen: Der methodischen Ignoranz.

Jeder von uns muss nämlich wissentlich ignorieren, dass solche Berechnungen im Verhältnis zum später Gemachten nicht nur verschieden, sondern methodisch gegenläufig und feindschaftlich sind.

Ein einfaches Beispiel: Die Länge der Diagonale in einem Quadrat von 1 x 1 m Kantenlänge beträgt exakt Wurzel 2 also 1,4142135 etc. Während die Strecke endlich ist, ergibt ihre mathematisch-logische Definition einen unendlichen Wert und ignoriert das materielle Phänomen. Umgekehrt kann jenes der denkbaren Präzision nicht entsprechen und wird Hilfskonstrukt oder Illustration.

Dieses Dilemma ist erkenntniskritisch sehr komplex und wirft die Frage auf, in welchen offenbar nur plausiblen Abgründen wir überhaupt denken. Deutlich daran aber ist, dass der wissenschaftliche Teil einer Aufgabenstellung mit dem materiellen Teil wenig zu tun hat. Vielleicht nichts. Viel zu kompliziert?

Bleibt nur noch Teil 3 des Beweises, die Undeutlichkeit einer jeden Übersetzung.

Dazu möchte ich Ihnen eine Passage aus Michel Serres’ Buch „Die Nordwest-Passage“ (1) vorlesen. Serres ist französischer Philosoph und Wissenschafthistoriker und sein Buch „Die Nordwest-Passage“ von 1994 befasst sich durchgehend mit den von mir geschilderten Problematiken und Beobachtungen.

Zitat: „Die Nordwest-Passage verbindet den Atlantik mit dem Pazifik, hoch oben im kalten Norden Kanadas. Ständig breiter und wieder schmaler werdend, windet sie sich von Baffinland bis hin nach Banksland, in einer unendlich komplizierten Zickzacklinie aus Buchten und Kanälen, Becken und Meerengen, durch den gewaltigen, fraktalen arktischen Archipel. Zufallsverteilung und strenge Regelmäßigkeit, Unordnung und Gesetz. […]
Das grosse Labyrinth des Weges wiederholt sich im Kleinen allmorgentlich vor dem Bug des Schiffes. Man umfährt Packeis, Treibeisfelder und Eisberge, schlängelt sich durch kleine Buchten, enge Kanäle, flache Becken und schmale Meerengen. […] Die Muster, die das Eis auf das Wasser zeichnet, zwingen das Schiff zu einem beständigen Vor und Zurück, zum Abdrehen und zum Stillstand.
Trügerische Bilder zeichnen sich ab in dieser weißen, kristallenen, durchscheinenden, nebeligen Welt. Land, Luft und Wasser verschmelzen miteinander, Festes und Flüssiges, Flocken und Nebelschwaden verfließen ineinander oder aber heben sich scharf, fraktal, voneinander ab […]. Ein Labyrinth aus Täuschungen und Präzision für die aufmerksame Beobachtung […].
Und plötzlich sind Sie gefangen. […] Sie sitzen fest, zehn Minuten, zehn Stunden, vier Tage oder neun Monate. […] Die Zeit beginnt den Raum nachzuahmen, wie das Eis eben noch die Karte nachahmte.
Karten übereinander getürmter, der Größenordnung verlustig gegangener Räume, auf denen die Komplikation als Zufallsvariation festgehalten ist; […] von dieser „Durchfahrt“ hat man lange geträumt. […| Der Ire McClure […] schaffte es 1850 […] von West nach Ost; aber er mogelt, denn er überquert Landzüge und Schneefelder auf Schlitten. Wie viele haben gemogelt, im neunzehnten Jahrhundert und später, die uns glauben machen wollten, es gäbe ein einheitliches Wissen und sie hätten die breite Passage von den Wissenschaften dieser Welt zu den Wissenschaften vom Menschen entdeckt. Auf einer Slup von nur siebenundvierzig Tonnen, einem elenden Kahn, schafft der Norweger Roald Amundsen zu Beginn unseres Jahrhunderts endlich die Durchfahrt in Gegenrichtung; er brauchte fünfunddreißig Monate und drei Überwinterungen.“ Zitat Ende.

Ich habe diesen Textausschnitt bei den Recherchen für meine kleine Rede gefunden. Der Text wurde nicht für die Arbeit geschrieben, die Arbeit nicht um den Text konstruiert. Die Ähnlichkeiten habe ich aber jetzt sehr gerne in Kauf genommen. Serres verwebt in fließendem Wechsel die beiden unterschiedlichen Vorstellungswelten von der konkret-wissenschaftlichen Kartierung und der subjektiven Erfahrungswelt der Datierung.
Wenn Sie Ihre vertikale Passage allmorgendlich und allnachmittäglich fünf mal in der Woche meistern, wird Ihnen einiges an Spekulationen durch den Kopf gehen. Ihre Arbeit, Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihr Zuhause, Ihre Umgebung. Diese Räume und Zeiten in Ihrer Version – auch im ganz praktischen Sinn – hier zu kartieren, ermöglicht Ihnen meine – und seit heute auch Ihre– Nordwestpassage. Ansätze sind gemacht. Und vergessen sie nicht: Das Gleichgewicht ist dabei zu halten zwischen den rationalen Quantifizierungen von Fakten und der irrationalen Neugier auf Unstimmigkeiten, der Qualifizierung von Spekulationen. Nebulös?

Quot erat demonstrandum.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen für die Passage Mut, Glück und ein gutes Beobachtungsvermögen.

Martin Conrath


(1) Michel Serres, Hermes V. Die Nordwest-Passage
Merve Berlin 1994, S. 15 ff.

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